Wie Bewegung unser Sehen beeinflusst

Kurz vor dem Startschuss. Konzentriert geht der Sportler in Position. Er blickt starr in Richtung Ziel, blendet alles um sich herum aus. Kein Geräusch, keine Bewegung um ihn herum kann ihn in diesem Moment ablenken. Der „Tunnelblick“ hat eingesetzt. 

Tatsächlich scheint dieser Effekt nicht nur in Ausnahmesituationen einzutreten, sondern auch in unserem Alltag. Zumindest wenn unser Körper in Ruhe verharrt.  

Lange Zeit ging man davon aus, dass sich die visuelle Wahrnehmung zwischen Ruhe und Bewegung nicht voneinander unterscheidet. Das Sichtfeld des Menschen ist immer gleich, so die Vermutung. Doch langsam wird deutlich, dass sich die visuelle Wahrnehmung der Bewegung anpasst. 

Keine Wahrnehmung gleicht der anderen

Studien mit Mäusen und wirbellosen Tieren ergaben, dass die Hirnaktivität im Ruhezustand stark von der in Bewegung abweicht. Unklar war bisher jedoch, ob sich diese Erkenntnis auch auf das menschliche Hirn übertragen lässt.

Dieser Frage widmeten sich die zwei Forscherinnen Liyu Cao und Barbara Händel der Universität Würzburg. Teilnehmer der Studie wurden aufgefordert, ein über ein Video-Headset langsam eingeblendetes Gitternetz zu erkennen. Die Forscherinnen zeichneten währenddessen sowohl die Hirnaktivität als auch die Augenbewegungen auf. 

Im Ergebnis zeigte sich eine klare Differenz zwischen Ruhezustand und Bewegung: Bei sitzenden Teilnehmern wurde das Gitternetz eher im Zentrum wahrgenommen und die Wahrnehmung in den Randgebieten nahm ab. Teilnehmer, die während des Experiments in Bewegung waren, konnten das Gitternetz in der Umgebung deutlich früher erkennen. Das Sichtfeld weitete sich demnach.

Neben dem Eyetracking ermöglichte auch die Messung der Hirnströme einen Rückschluss auf diese Theorie. Besonders Alphawellen zeigten bei den Teilnehmern eine starke Veränderung auf. Diese Gehirnwellen blenden irrelevante Informationen aus und beugen Reizüberflutungen vor. Bei Testpersonen im Ruhezustand verzeichneten die Forscher eine verstärkte Aktivität der Alphawellen. In Bewegung ging diese zurück.

Sichtfeldanpassung im Alltag

Wie lässt sich dieses Ergebnis auf unser alltägliches Sehen übertragen? Cao und Händel vermuten, dass sich unser Sehen der jeweiligen Bewegungssituation anpasst. Sitzen wir konzentriert an unserem Arbeitsplatz oder lesen gerade ein Buch auf unserer Couch, blendet unser Gehirn nicht nur die Geräusche unserer Umgebung aus. Das zentrale Sehvermögen rückt in den Vordergrund. Wir sehen tatsächlich weniger. 

Anders in Bewegung: Wandern wir beispielsweise durch eine Landschaft, weitet sich unser Sichtfeld. Zentrales Sehvermögen und das periphere Sehvermögen, das Sehen außerhalb des Schärfepunktes, werden vom Gehirn gleichwertig behandelt.

Wir erkennen dadurch schon frühzeitig Veränderungen oder Bewegungen unserer Umgebung und können auf diese reagieren. 

Dass diese Ausweitung der Wahrnehmung noch mehr bewirken kann, zeigt eine Studie aus 2014. Marily Oppezzo und Daniel L. Schwarz untersuchten in einem Experiment die Verknüpfung von Bewegung und Kreativität. Das Ergebnis: Bei Aufgaben, die sich nur auf kreativem Weg lösen lassen, fördert Bewegung die Hirnaktivität.

Ein Grund mehr für einen Spaziergang. Gehen Sie raus in die Natur und erweitern Sie Ihr Sichtfeld – vielleicht nicht nur im wörtlichen Sinn.